 
Als 1974 bei den Salzburger Festspielen ein 18-jähriger für den großen Svjatoslav Richter einspringen durfte, verblüffte dieser bisher wenigen bekannte Pianist ein kritisches wie glamouröses Publikum - und die Kritiker. Andrei Gavrilov, so der Name des Pianisten, gehörte zu jenen "stets beneidenswert gut trainierten jungen Supervirtuosen" die danach regelmäßig aus Russland kommend auf den westlichen Konzertpodien erschienen, wie Joachim Kaiser anerkennend und erstaunt feststellte. Der Klavierexperte konstatierte: Gemessen am Stand des damaligen deutschen, österreichischen und französischen Nachwuchses, war auch dieser Gavrilov eine jener "unerreichbaren Ausnahmeerscheinungen" aus russischen Landen. Seine "fantastisch virtuosen Darbietungen" von Werken Ravels und Liszts beim Salzburger Klavierabend bewiesen es.
Svjatoslav Richters Empfehlung für seinen jungen Einspringer war also mit Berechtigung ausgesprochen worden und Joachim Kaisers kritische Bewunderung hat bis heute ihre Gültigkeit bewahrt: Andrei Gavrilov gehört zu den großen Pianistenpersönlichkeiten unserer Zeit - mag es auch in den vergangenen Jahren etwas ruhiger um ihn geworden sein. Gegenwärtig scheint der auf dem Podium gleichermaßen temperamentvolle und unerwartet grüblerische Gavrilov wie befreit in eine neue Phase seiner Karriere zu treten.
Gavrilov wurde 1955 in Moskau geboren und erhielt erste prägende künstlerische Impulse in seiner Familie. Sein Vater war ein bekannter russischer Maler und die Mutter eine Schülerin des legendären Pianisten und Klavierlehrers Heinrich Neuhaus, aus dessen Schule Emil Gilels und Svjatoslav Richter stammen. Hierher rührt auch die frühe Bekanntschaft und spätere kollegiale Freundschaft zu Richter. Der sechsjährige Andrei trat 1961 in die Zentrale Moskauer Musikschule ein, sozusagen die musikalische Kaderschmiede der Sowjetunion, und erhielt anschließend am Moskauer Konservatorium Unterricht von Lev Naumov, selbst Schüler und Assistent von Neuhaus und inzwischen einer der angesehensten Klavierpädagogen Russlands. Gavrilovs Sieg beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb 1974 war dann der Lohn harter Arbeit und folgerichtige Bestätigung seines großen Talents.
Nun standen dem jungen Musiker die westlichen Konzertsäle offen und spätestens nach dem Salzburger Sensationserfolg erwartete ein stets gespanntes Publikum den wilden Russen. Sein erster Münchener Auftritt 1976 entlockte der Kritikerstimme Joachim Kaisers Hymnentöne: "Virtuos, ekstatisch, bedenklich - endlich hatten wir in München die Möglichkeit, diese wahrhaft staunenswerten Klavierhände bei der Arbeit zu sehen, die mir genauso begabt erschienen wie die eines Svjatoslav Richter oder eines Horowitz!"
In Europa, besonders in Großbritannien, gab Gavrilov gefeierte Konzerte, und hielt sich bei diesen Anlässen in Interviews und bei Pressekonferenzen nicht zurück mit seiner kritischen Meinung gegenüber dem Sowjetregime - ob aus naiv-jugendlichem Ungestüm oder aus arglosem Idealismus, sei dahingestellt. Der KGB-Chef Andropow wusste davon und entschied, im Einvernehmen mit dem Parteivorsitzenden Breschnew, ein Zeichen zu setzen. Es war der Auftakt zu einem Alptraum für Andrei Gavrilov. Am 6. Dezember 1979 sollte er in Berlin mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern ein Konzert geben und mit ihnen eine der ersten digitalen Schallplattenaufnahmen produzieren. Karajan und die Philharmoniker warteten vier Stunden, um mit dem Pianisten zu proben. Gavrilov war verschollen. Erst später erfuhr man im Westen, dass Gavrilovs Pass eingezogen worden war, man seine Telefonleitungen gekappt und ihn unter Hausarrest gestellt hatte. Aufgrund fadenscheiniger Beschuldigungen blieb der Pianist in der Sowjetunion isoliert, abgeschnitten von Freunden und Familie, wurde wiederholt in psychiatrische Kliniken zwangseingeliefert, ja wiederholt mit dem Tod bedroht. Er war kaum in der Lage, musikalisch zu arbeiten oder öffentlich zu konzertieren.
Der Mann, der eine weltgeschichtliche Wende einläutete, Michail Gorbatschow, trug vielleicht zur Rettung von Andrei Gavrilov bei. Während der sich anbahnenden Reformen in der Sowjetunion gelang es dem Pianisten, mit dem ersten Mann im Staat Kontakt aufzunehmen, und ihn für seinen Fall zu interessieren. 1984 erhielt der Musiker die Erlaubnis, wieder im Westen aufzutreten, und ein Jahr später, nach dem Versprechen zurückzukehren, sogar die Zusage, sich für zwei Jahre frei im Ausland bewegen zu können. Nach der völligen Wiederherstellung seiner stark angegriffenen Gesundheit, stürzte sich Gavrilov in einen rastlosen Rausch von Konzerttourneen und Aufnahmesitzungen, als ob er die verlorenen Jahre aufholen wollte. 1985 trat er endlich in den USA auf, nachdem sein geplantes Debüt Anfang der achtziger Jahre von den dramatischen Ereignissen verhindert worden war. Sein umjubeltes New Yorker Carnegie-Hall-Debüt im Juni markierte die endgültige Rückkehr Gavrilovs auf die internationalen Konzertpodien. Gavrilov hielt sein Wort, ging zurück nach Moskau - und musste erkennen, dass etwas in seinem Verhältnis zur Heimat unwiderruflich in Unordnung geraten war. Der Künstler und Mensch entschied sich für einen endgültigen Freiheitsschritt - ironischerweise 1989, im Jahr, als der eiserne Vorhang sich öffnete: Gavrilov ließ sich in der Nähe Wiesbadens nieder, von wo aus er schnell nach Frankfurt, und so in der Welt reisen konnte, um zu konzertieren. Seit kurzem lebt der Musiker, der immer wieder die Ruhe sucht, mit seiner japanischen Frau und dem kleinen Sohn Arseni in der Schweiz.
Der heute 48-jährige Gavrilov ist seinem Repertoire im Kern treu geblieben: Die Musik von Chopin, Skrjabin, Ravel und Prokofjew erfordert gleichermaßen den delikaten und virtuosen Zugriff des Pianisten. Diese formal frei angelegten Kompositionen kommen dem rhapsodischen Temperament Gavrilovs entgegen. Später erst sind Bach und Händel in seinen Blick geraten - nicht zuletzt durch den Freund Richter, der ihn zu seinem Musikfestival nach Frankreich einlud. In Tours spielten sie abwechselnd die Suiten Händels, und Svjatoslav Richter, dem Freunde später Mitschnitte davon vorspielten, ohne die Aufnahmen zu identifizieren, verwechselte sein eigenes Spiel mit dem Gavrilovs und umgekehrt. Was für ein Kompliment.
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